Titelseite des Osservatore Romano vom Gründonnerstag 2021 mit dem dem Judas gewidmeten Gemälde
Kaum jemand, ausgenommen Marcello Veneziani, entsinnt sich noch des Verlegers Giovanni Volpe (1906-1984), Sohn des berühmten Historikers Gioacchino Volpe. Und doch, obwohl er streng genommen nicht zur gegenrevolutionären Schule gehörte (er war einer anderen, noch mit dem Risorgimento verbundenen Generation zugehörig), tat er – auf eigene Kosten – viel für die intellektuelle und menschliche Bildung der traditionell-katholischen Jugend in Italien (ich erinnere an die Geschichtskongresse in San Miniato al Tedesco). Anlässlich der modernistischen Revolution des II. Vatikanums druckte der Verlag Volpe sehr viele Bücher zur Verteidigung der katholischen Tradition, darunter eines, an das ich mich wegen seines Titels erinnere: „La Chiesa di Giuda?“ [„Die Judas-Kirche?“]. Sein Verfasser war ein anderer Historiker und Freimaurer-Experte, der Msgr. Lefebvre bei der Entstehung seines Werkes zur Seite stand: Bernard Faÿ (1893-1978). Das 1970 auf französisch veröffentlichte Buch wurde sehr rasch ins Italienische übersetzt und trug, bezugnehmend auf das II. Vatikanum, als Untertitel die Worte des Evangeliums nach dem heiligen Matthäus (26, 16): „… Judas suchte eine günstige Gelegenheit, ihn zu verraten.“ In einem Vorwort stellte der Verfasser bescheiden klar, sein Werk sei eine historische und keine theologische Studie, welche daher die Fragen der Glaubenslehre den „zuständigen Theologen“ überlasse; und wirklich gibt es unter streng theologischem Gesichtspunkt keine „Kirche des Judas“.
Wohl aber existieren Judasse in der Kirche Christi, noch versteckt so wie Judas, der schon zum Verräter geworden war und doch bis zum Ölgarten im Apostelkollegium verborgen blieb. Der Herr hat wohlweislich zugelassen, dass es unter den Seinen einen Verräter gab, damit wir keinen Anstoß an all den Verrätern nehmen, die in der Geschichte der Kirche aufeinander gefolgt sind, die so viel zu leiden hatte und immer noch leidet, nicht bloß von seiten der äußeren und erklärten Feinde, sondern auch, und ich möchte sagen vor allem, von seiten der inneren und versteckten Feinde. Der hl. Pius X. ruft uns in Erinnerung, „dass man die Anstifter der Irrtümer heute nicht unter den erklärten Feinden zu suchen hat. Sie verbergen sich, und das ist ein Gegenstand sehr lebhafter Besorgnis und Beängstigung, im Schoße und im Herzen der Kirche selbst, Feinde, die umso mehr zu fürchten sind, je weniger offen sie es sind. Wir sprechen, Ehrwürdige Brüder, von einer großen Zahl von katholischen Laien und, was noch beklagenswerter ist, Priestern, die sich unter dem Schein der Liebe zur Kirche, jedoch absolut bar jeder ernsthaften Philosophie und Theologie, im Gegenteil durchtränkt bis ins Mark von einem bei den Feinden des katholischen Glaubens geschöpften Gift des Irrtums, unter Missachtung jeglicher Bescheidenheit als Erneuerer der Kirche aufführen; die in dicht gedrängten Reihen dreist alles angreifen, was an Heiligstem im Werk Jesu Christi existiert, ohne seine Person selbst zu verschonen, die sie mit gottesschänderischer Verwegenheit auf seine schlichte und bloße Menschheit reduzieren. Diese Menschen mögen sich darüber wundern, dass Wir sie unter die Feinde der Kirche rechnen. Es wird sich jedoch niemand darüber wundern, der einige Grundlagen besitzt und – unter Absehung von ihren Absichten, deren Beurteilung Gott allein zusteht – ihre Lehren sowie, in deren Gefolge, ihre Art zu sprechen und zu handeln einer Prüfung unterzieht. Feinde der Kirche sind sie gewiss, und man entfernt sich nicht von der Wahrheit, wenn man sagt, dass sie keine schlimmeren hat“ (Enzyklika Pascendi). Also nicht bloß Feinde der Kirche, sondern mit ihre schlimmsten, genau wie Judas. Für Msgr. Benigni ist der Modernismus, wie Judas, „der Verräter der Kirche“. Bereits der heilige Apostel Paulus wusste sich „in Gefahr unter falschen Brüdern“ (den Judaisierern, 2. Kor. 11, 26), und die Modernisten sind die wahrhaftigen Nachfahren der falschen Brüder von damals.
Nicht verwunderlich ist dann die Sympathie, welche die besagten Modernisten für den Verräter schlechthin, das heißt für Judas Iskariot, empfinden, dem sie unterstellen (oder von dem sie behaupten), er sei gerettet. Es handelt sich um eine bereits alte Verirrung (vgl. zum Beispiel Sodalitium [italienische Ausgabe] Nr. 41, S. 29; Sodalitium Nr. 49, S. 42-49: Die Letzten Dinge gemäß Johannes-Paul II.; Sodalitium Nr. 59, S. 42-44; hier befinden wir uns unter Ratzinger!). Wenn schon Wojtyla und Ratzinger Judas rechtfertigen, stellen wir uns erst Bergoglio vor! Und wirklich, am Gründonnerstag 2021 (die Nacht des Verrats!), dem ersten April (das ist leider kein Scherz) hat der Osservatore Romano seine Ausgabe nicht dem Priestertum oder der Eucharistie, sondern dem Verräter gewidmet. Auf der Titelseite findet sich ein abstoßendes Gemälde, auf dem ein nackter Jesus dargestellt ist, der sich über den halbnackten und durch Selbstmord gestorbenen (der Baum ist im Hintergrund) Judas beugt, das ganze überschrieben mit: „Judas und das Ärgernis der Barmherzigkeit“. Barmherzigkeit gegen wen? Natürlich gegen Judas, das ist offensichtlich (und nach ihm erst recht gegen seine Nacheiferer und Nachahmer von gestern und von heute)! Der Direktor des Osservatore Romano, Alberto Monda, erklärt in seinem Leitartikel, wer der Ideengeber, wenn nicht gar der Befehlsgeber dieser Judas gewidmeten Gründonnerstagsausgabe ist: „Papst Franziskus“, und er unterrichtet uns darüber, dass sich „hinter dem Büro des Heiligen Vaters“ zwei Bilder befinden: das erste ist dasjenige eines Kapitells der Basilika Sainte-Marie-Madeleine in Vézelay, das „den erhängten Judas“ und Jesus als den Guten Hirten darstellen soll, „der ihn auf seinen Schultern trägt“; das andere ist eben das abstoßende Gemälde, das ein „französischer Gläubiger“ ihm nach einer Anspielung Bergoglios auf das oben erwähnte Kapitell geschenkt hat. Auf den Seiten 2 und 3 finden sich ein Abschnitt aus dem Buch Le tenebre e la Luce [Die Finsternis und das Licht] von Kardinal Martini, ein Text L’uomo più solo [Der einsamste Mensch] des Schriftstellers Giuseppe Berto, entnommen dem Buch La gloria [Die Herrlichkeit], ein Text Mistero di un no [Geheimnis eines Nein] von Giovanni Papini, entnommen seiner Storia di Cristo [Geschichte Christi] (in Il Diavolo [Der Teufel], einem auf den Index gesetzten Buch, wird Papini auch die zukünftige Vergebung für Satan vertreten), und eine Predigt von Don Primo Mazzolari für den Gründonnerstag 1958: Unser Bruder Judas, worin „die Trompete des Heiligen Geistes auf dem Boden von Mantua“ (so wörtlich Johannes XXIII.) behauptet, dass die ersten Heiligen, die ins Paradies eingingen, Judas und die beiden Schächer (ja, nicht einer, sondern beide) gewesen seien. Merkwürdigerweise werden nicht die Worte Bergoglios gebracht, der sich an Don Mazzolari inspiriert. Wir jedoch bringen sie. Er hat sie am 16. Juni 2016 in der Basilika Sankt Johannes vom Lateran anlässlich der Eröffnung der Synode der Diözese Rom geäußert: „Mir ist das Bildnis jenes Kapitells der Basilika Sainte-Marie-Madeleine von Vézelay in Südfrankreich, wo der Jakobs-Pilgerweg beginnt, in die Hände gekommen: auf der einen Seite ist Judas, erhängt, mit herausgestreckter Zunge, auf der anderen Seite des Kapitells ist Jesus der Gute Hirte, der ihn auf seinen Schultern trägt, der ihn mit sich nimmt. Das ist ein Geheimnis. Doch diese Menschen des Mittelalters, die den Glauben durch Bilder vermittelten, hatten das Geheimnis des Judas verstanden. Und es gibt eine schöne Ansprache darüber von Don Primo Mazzolari an einem Gründonnerstag, eine schöne Ansprache. Er ist kein Priester aus dieser Diözese, aber aus Italien. Ein Priester Italiens, der diese Komplexität der Logik des Evangeliums recht verstanden hat. Und wer sich die Hände am meisten schmutzig gemacht hat, ist Jesus. Jesus hat sich mehr beschmutzt. Er war kein ‚Saubermann‘, sondern ging zu den Leuten, unter die Leute, und nahm die Leute wie sie waren, nicht wie sie sein sollten.“ Und wer seinen Augen nicht traut, wird doch wenigstens seinen Ohren trauen: https://www.youtube.com/watch?v=Y2bs9c74SAc.
Das Kapitell von Vézelay ist für Bergoglio so bedeutsam, dass er am 9. März, am 2. August und am 2. Oktober 2017 darauf zurückgekommen ist. Doch stellt das Kapitell von Vézelay (das übrigens nicht in Südfrankreich liegt) wirklich den Guten Hirten dar, der Judas auf seine Schultern nimmt? Das Bild des erhängten Judas und dasjenige des Guten Hirten, der den Sünder mit sich nimmt, sind es nicht eher zwei entgegengesetzte Bilder dessen, der die Barmherzigkeit Gottes ablehnt oder dessen, der sie annimmt? Oder scheint es nicht so, dass der Gute Hirte damit gar nichts zu tun hat? Es scheint, dass derjenige, der etwas damit zu tun hat, vielmehr jener ist, der das Kapitell als erster in diesem Sinne gedeutet hat, nämlich der laisierte „Theologe“ Eugen Drewermann (vgl. Il Timone [Das Steuerruder], Nr. 162, April 2017) in einem Buch, das der „katholische“ Verlag Queriniana just 2015 veröffentlichte. Jedenfalls gilt ihm ein Kapitell mehr als das Evangelium, das die Verdammnis des „Sohnes des Verderbens“ offenbart, für den es besser gewesen wäre, dass er nicht geboren wäre.
Im Altertum verehrten die gnostischen Kainiten den Judas, die barmherzigen Origenisten wollten ihn gerettet wissen; heute erwählen ihn die Neomodernisten zu ihrem Apostel. Ein Artikel von 2018 (Giuda Apostolo e Diavolo. Bergoglio Papa e Diavolo? [Judas, Apostel und Teufel. Bergoglio, Papst und Teufel?] verficht die bizarre Idee, dass Bergoglio in der Tat, wie Judas, ein „Teufel“ ist (Joh. 6, 71-72). Doch Judas war Apostel und Teufel zugleich: sein Sitz war nicht vakant; dasselbe kann man von Bergoglio sagen. Der Artikelschreiber vergisst, dass es eine Sache ist, Apostel zu sein, und eine andere, Papst zu sein; eine Sache ist es, Apostel vor der Gründung der Kirche zu sein, eine andere, es hinterher zu sein; eine Sache ist es, Apostel im Augenblick der Berufung zu sein, eine andere, es im Augenblick des Verrats zu sein. Indem man alles durcheinander wirft, verwechselt man auch die Begriffe. Judas war Apostel, als er berufen wurde: war er es noch, da er den Glauben verloren hatte, im Augenblick seines Verrats, anders als bloß äußerlich? Und wenn er es war – als die Kirche noch gar nicht gegründet war –, so war er doch nicht dazu bestimmt, wie Petrus, das sichtbare Haupt der Kirche zu sein. Und das alles, um zu sagen, dass der Stellvertreter Christi ein Teufel ist, ohne zu bemerken, dass diese seltsame Bergoglio-Treue Christus schmäht, der einen ‚Teufel‘ nicht bloß äußerlich und rein menschlich (materialiter), sondern auch wirklich (formaliter) zu seinem Stellvertreter und Repräsentanten hätte.
Fahren wir lieber fort, uns dem Modernismus und den Modernisten, den Hauptfeinden der Kirche, entgegenzustellen, die in der Kirche verborgen sind, sie jedoch nicht repräsentieren. Überlassen wir es den selbsternannten „Gemäßigten“, eine Autorität zu verteidigen, der sie in der Praxis jegliche Autorität absprechen.
Das ist die Linie dieser Zeitschrift, eine Linie, die seit 1986 bis heute unverändert geblieben ist.